Theoretische Grundlagen

Projektentstehung

Ausgegangen vom Suchtarbeitskreis Weilheim-Schongau und hier der Unterarbeitsgruppe Kindergarten entwickelte eine Mitarbeiterin des örtlichen Gesundheitsamtes, Elke Schubert, und ein Mitarbeiter des örtlichen Jugendamtes, Rainer Strick, 1992 das Konzept in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Kindergarten Penzberg.

Projektziel Lebenskompetenzförderung

Ziel dieser Arbeitsgruppe war die Entwicklung eines suchtpräventiven Projektes im Kindergarten, das an der Lebenskompetenzförderung ansetzt. Dazu gehört z.B. die Fähigkeit sich verständlich zu machen und andere zu verstehen, Bedürfnisse wahrzunehmen und die Fähigkeit Beziehungen aufzubauen (vgl. Winner 1998). Studien aus der Präventionsforschung haben ergeben, dass diejenigen Maßnahmen am wirksamsten sind, die versuchen Lebenskompetenzen zu stärken. Aus der Vorschulpädagogik ist bekannt, dass Kinder Spielräume brauchen, in dem diese ihre Themenschwerpunkte selbst setzen können, ihr Entwicklungstempo bestimmen können und ihre Spielpartnerinnen und Spielpartner eigenständig auswählen können. Für Kinder sollte deshalb ein Erfahrungsraum geschaffen werden, den sie selbst gestalten können und in dem sie in ihren Fähigkeiten gefördert werden.

Bedeutung des Spielzeugs

Die Projektinitiatoren setzten sich, im Sinne einer ursachenorientierten Prävention, mit der Lebenswelt von Kindern und den sie umgebenden Konsumgütern auseinander. Eines der beliebtesten Konsumgütern von Kindern ist das Spielzeug. Spielzeug regt Kinder zu vielem an, aber wir wissen alle, dass Spielzeug heutzutage oftmals im Überfluss vorhanden ist und sich mit dem Kauf von Spielzeug Frustrationen und unbefriedigte Bedürfnisse verdrängen lassen können. Bezogen auf die Fülle der Angebote, die teilweise aufkommende Langeweile trotz oder gerade wegen des Überflusses ging es darum, wieder Spielraum zu schaffen für Phantasie und Kreativität und damit auch für Selbstbestätigung und Selbstbewusstsein. Wenn Spielen immer weniger von kindlichen Bedürfnissen und Phantasien und immer mehr von Fertigprodukten geprägt wird, die das Spiel schon vorgeben, ist es wichtig, Kindern wieder den Freiraum zu verschaffen, "zu sich selbst zu kommen", für einen begrenzten Zeitraum eine "Gegenerfahrung" zu machen. Dass sich viele Kinder diesen Freiraum nicht nehmen lassen, ist klar, aber primärpräventive Ansätze wenden sich bewusst nicht nur an eine Gruppe von im engeren Sinne Gefährdeten, sondern an alle Kinder, um auch die zu erreichen, die zunächst vielleicht nicht die Möglichkeit haben, die o.g. Kompetenzen zu entwickeln. (vgl. Schubert, Strick 1996).

Konzeptbausteine

Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Idee und das Konzept zum "Spielzeugfreien Kindergarten".

  • Ohne Spielzeug und Materialien
    Für einen begrenzten Zeitraum - 3 Monate - soll, natürlich zusammen mit den Kindern und mit langer Vorbereitungszeit, das Spielzeug entfernt werden, um Kindern die Möglichkeit und Chance zu geben, sich mit sich selbst auseinander zusetzen, mit ihren Stärken und ihren Schwächen.. Aber nicht nur das vorgefertigte Spielzeug soll entfernt werden, sondern alle Materialien, wie z.B. Papier und Stifte, so dass letztendlich nur noch das Mobiliar vorhanden ist. Wichtig ist: das Projekt ist nicht gegen Spielzeug. Wir wissen alle, dass es viel sinnvolles Spielzeug gibt und dies auch notwendig für die kindliche Entwicklung ist. Im Projekt soll für einen begrenzten Zeitraum ein neuer Spielraum, ein neuer Erfahrungsraum geschaffen werden, in dem Kinder ihre eigenen Fähigkeiten, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigenen Grenzen und Möglichkeiten erkennen können. Durch die temporäre Entfernung des Spielzeugs erhalten so die Kinder die Chance sich stärker auf Gruppenprozesse einzulassen, verschiedene Positionen in der Gruppe zu erproben und sich in anderen Rollen zu versuchen.
  • Neue Rolle der ErzieherInnen
    Neben der Herausnahme des Materials ist ein zweiter wichtiger Bestandteil des Projektes die neue Aufgabe und Rolle der Erzieherinnen. Statt Spiel- oder andere Themenangebote durchzuführen, statt vorschnelle Lösungen anzubieten, wechseln sie in eine beobachtende Rolle, weg von der "Animation" hin zu einer interessierten Beobachterin. Die Erzieherinnen werden unterstützende Partnerinnen und Begleiterinnen der Kinder.
  • Elternarbeit
    Ein weiterer wichtiger Baustein ist die intensive Elternarbeit. Eltern müssen vor Projektbeginn, während und nach dem Projekt grundlegende Informationen und die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch erhalten. Vor der Durchführung sollte eine weitgehende Zustimmung zum Projekt bei den Eltern vorhanden sein. Auch die Großeltern können einbezogen werden, indem sie einen Nachmittag mit ihren Kindern in den Kindergarten eingeladen werden, um von ihren Spielen in ihrer Kindheit zu erzählen.
  • Projektbegleitung
    Das Konzept sieht weiterhin eine externe Projektbegleitung zur Unterstützung in der Elternarbeit und zur Praxisreflexion und - dokumentation vor.
Verbreitung und Koordination auf Landesebene


Erfahrungen im städt. Kindergarten Penzberg, der 1992 zum ersten Mal das Projekt durchführte, waren für alle Beteiligten sehr positiv. Von Anfang an war die Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern e.V. (aj) durch Gespräche beteiligt und hat das Projekt interessiert verfolgt. Von der aj herausgegebene Materialien wie die Projektdokumentation, Projektleitfaden, Elterninfo, wissenschaftliche Begleitstudie und ein Videofilm sowie zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen haben zu einer großen Verbreitung des Projekts geführt. In einer Datenbank hat die Aktion Jugendschutz alleine in Bayern über 130 Kindergärten gesammelt, die eine spielzeugfreie Zeit durchgeführt haben.

Mittlerweile gibt es in ganz Deutschland und auch in der Schweiz und Österreich zahlreiche Kindergärten, die das Projekt durchgeführt haben. In den letzten Jahren stand seitens der Aktion Jugendschutz zunehmend die Fortbildung, Vernetzung und Betreuung von Fachkräften, die Kindergärten bei der Durchführung unterstützen und begleiten, im Vordergrund. So wurden bislang über 30 Projektbegleiter intensiv fortgebildet und in Netzwerktreffen inhaltlich betreut.

Internat. Auszeichnung

1999 wurde dem "Network for Mental Health Promotion for Children up to 6 years" das Projekt "Spielzeugfreier Kindergarten" in Brüssel präsentiert. Dieses Netzwerk von Experten und nationalen Ländervertretern im Bereich der europäischen Gesundheitsförderung erstellte in den vergangenen zwei Jahren eine Sammlung von Projekten im Bereich der Gesundheitsförderung für Kinder bis 6 Jahre. Bei dem erstellten "Directory of Projects in the European Union" wurde das Projekt "Spielzeugfreier Kindergarten" bei über zweihundert eingereichten Projekten aus ganz Europa in die ausgewählte Liste der "effektiven Modellprojekte" ausgewählt und aufgenommen.

Man kann mit Sicherheit sagen, dass das Projekt Spielzeugfreier Kindergarten einer der profiliertesten suchtpräventiven Ansätze im Kindergartenbereich ist, das mittlerweile auch zunehmend international anerkannt ist und somit einen entscheidenden Impuls für eine sinnvolle Gesundheitsprävention im Kindesalter gesetzt hat.


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